Es verhält sich seltsam mit mir und der Oper. Ich liebe dieses Haus, seinen Anblick, seine Eleganz, seine Einrichtung, seine Bühne. Am liebsten habe ich den Flur in der ersten Etage mit den bodenlangen weißen Vorhängen, die, wie Weiden aus einem Märchen, den Blick auf Dresdens Schönheit preisgeben. Und ich liebe es manchmal für einen kurzen Moment Teil dieses Hauses sein zu dürfen, ein Gast mit einem besonderen Privileg: Ich muss nicht in der Schlange stehen um meinen Mantel abzugeben. Ich brauche auch keinen Opernführer. Die Empfangsdamen lassen mich kalt. Mein Weg führt nicht vom Haupteingang in den Zuschauersaal, sondern über den Pförtner hinter die Bühne. Selig schwebe ich meinem Vater hinterher, als wäre es wie damals, als ich als kleines Kind von ihm mitgenommen wurde, um am Fahrstand zu sitzen und meinem heißgeliebten Nussknacker zu lauschen. Beeindruckt von der Technik, den vielen Knöpfen, den Requisiten, dem Geruch der Bühne, den Tänzern, den Lichtern und der Atmosphäre dieses Hauses. Ich konnte die Menschen bei der Arbeit betrachten, die die Illusion vorbereiten, die Männer und Frauen, die die Fäden der Marionette Oper halten. Ich konnte der russischen Ballerina zusehen, wie sie zwei-, dreimal tief einatmete, sich spannte um loszufliegen, als hätte sie nie etwas anderen getan und als hätte sie nicht vor einer Minute noch wild gestikulierend mit ihren Kollegen in dieser herrlich tiefen Sprache flüsternd den gestrigen Abend besprochen.
Es ist eine Illusion, die wir sehen wollen, sehen müssen. „Das Theater ist das ergreifende Sinnbild des Lebens” – so steht es auf einem Prospekt des Hauses. Die Oper wiederum ist eine Seifenblase, fernab aller Realität und des modernen Lebens. Sie ist Bewahrerin einer Bühnenkunst, die Königen gleich das Größte ist, was dem Menschen möglich ist. Höher sitzen nur die Engel mit ihren Harfen. Unsere Engel sitzen im Orchestergraben. Das Fagott übt eifrig, es ist aufgeregt, denn es muss der Querflöte seine Liebe beweisen. Die Geigen verbünden sich, das tun sie immer, so, wie es junge Mädchen tun. Der Kontrabass genießt gelassen die Ruhe vor dem Sturm. Die Flöten zwitschern nervös, denn sie wissen, diese Oper ist ihre Hymne, ihr Glanz.
Aus meinem kleinen Zimmer gegenüber der Bühne betrachte ich das Geschehen. Noch ist niemand da, noch bin ich ganz allein mit meiner Oper. Mit meiner zauberhaften Fünfminutenuhr. Mit dem karminroten Vorhang. Mit meinem Tochtersein.
Doch dann:
Einlass geputztes Gefieder. Jung und alt drängt herein, sucht, staunt, fotografiert. Die, die noch Haare haben, tragen Schüttelschnitt oder blasslila Frisuren. „Ingrid, Melanie, hier geht’s lang!” Beim Platzgedränge gibt man sich erstaunlich gelassen, wir sind schließlich in der Oper: „Man ist ja sportlich, haha.” Als endlich alle sitzen, werden die Iphones gezückt, doch die Technik vermag das Phantom der Oper aus Schminkgeruch und Kunstgewissen nicht einzufangen. Dafür müsste man seine Seele bedingen…
Stille. Man ist nun bereit für die musische Heiligkeit dieser deckenhohen Hallen: Die Oper kann beginnen!
Und es ist, wie es für mich immer war und bei Mozart sowieso: Es zerrieselt mich vor Glück bereits im ersten Satz. Diese Heiterkeit, diese Leichtigkeit, diese Freudenhüpfer! Was wäre die Menschheit ohne die Oper-Illusion! Ohne Theater, ohne Schauspiel und Gesang? Was wäre die Menschheit ohne Genies wie Mozart? Er kannte sie, die Oper, wie kein anderer, er konnte sich in ihr frei und glanzvoll entfalten. Die Göttin der Musik ist in ihrer Form Jahrhunderte Jahre alt, sie hat sich durch alle Zeiten hindurch gehalten. Und wird das wahrscheinlich noch lange, denn selbstbewusst genug ist sie ja.
Die Stunden vergehen, die Klänge verklingen. Das Publikum klatscht, die Sänger werden bejubelt. Ich klatsche auch, denke dabei an meinen Vater und an die Vögel Papagenos. Und danke diesem Haus, dass es mich aufgenommen hat, als einen Gast unter vielen und doch ganz privat.
Beim Verlassen der Oper drehe ich mich auf dem Theaterplatz noch einmal um. Im gleisenden Sonnenlicht steht sie da, zigmal wieder aufgebaut, restauriert, ungebrochen. Kein noch so kleines Zeichen zeugt von dem Wunder, das in ihrem Inneren soeben vonstatten ging. Ich betrachte die großen Fenster, die breite Fassade und sehe die ersten Zuschauer hinausströmen.
So sag doch, goldverziertes Opernhaus, wen liebst du mehr? Den eifrigen Komponisten, den begabten Dirigenten, die schöne Ballerina, den sanften Cellisten? Oder doch das bunte Publikum? Eines steht fest: Das Publikum liebt dich, mit all deinen Akteuren zusammen, die dich und deine Illusion Tag für Tag zum Leben erwecken lassen. Die dich pflegen und hüten wie einen Schatz, der nicht verloren gehen darf. Und die dich ehren für das, was du bist: Eine stolze Königin.