„Der Alte“

(Anmerkung 1: entstanden bei heißer bzw. kalter Schokolade mit dem Pilath-Martin-Schreib-Konglomerat

Anmerkung 2: illustriert von meiner wunderbaren Schwester Theresia Kellig)

Der Alte sitzt in der Nachmittagssonne neben seiner Lieblingsbank am Seerosenteich und schaut auf die drei Enten, die zu seinen Füßen nach Krumen betteln. Es ist bereits viertel fünf und die Sonne verschwindet langsam hinter den Eichenbäumen am Rande des Parks. Von Weitem hört er die Stimmen anderer Menschen, schattengleich dringen sie an sein Ohr. Er versucht den Kopf in ihre Richtung zu drehen und schafft es wieder nicht. Eine der Enten schaut ihm lange in die Augen, als wollte sie ihr Mitleid bekunden. Super, jetzt haben sogar die Enten schon Mitleid mit mir – denkt er und schließt resigniert die Augen.

Der Wecker auf seinem Schoß zeigt 16:24. Die Zeit verrinnt langsam im Nichts, genauso wie sein Leben. 89 Jahre ist er alt, vollständig gelähmt, ohne Angehörige und Freunde. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen. Jeden Tag sucht er sich zwei Gedanken aus. Morgens eine schlechte Erinnerung, eine, an die er eigentlich nie mehr denken wollte. Und abends eine gute, eine, die schon ganz abgenutzt ist, so oft rief er sie sich ins Gedächtnis.

Es ist 16:29. Er hat noch 16 Minuten, bis Aurélie, die Schwester kommt und ihn hineinfahren wird. Und dann wird er keinen schönen Gedanken mehr zustande bekommen, denn es dauert, bis er in seinem Bett liegt, Abendbrot durch einen Schlauch eingeführt, die Windel gewechselt und schließlich mit dröhnendem Fernseher sich selbst überlassen wird.

Ihm fallen seine Kinderjahre ein. Und da ist sie schon, die hellste aller guten Erinnerungen, die sein ganzes Erwachsenenleben erleuchtet hat. Es ist spät abends an einem lauen Frühlingstag und er liegt im Bett mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder und die Mutter liest ihnen den Häwelmann vor. Das Fenster ist geöffnet, der Wind weht herein und lässt die Vorhänge tanzen. Die Mutter küsst die Jungen, deckt sie bis zum Hals zu und flüstert ihnen ein: „Ich hab euch lieb!“ zu, bevor sie das Licht löscht und nach draußen geht.

Er schläft sofort ein, doch nach kurzer Zeit wird er mitten in der Nacht geweckt. Es ist die Osternacht, die heiligste aller Nächte und die Jungen müssen sich schnell anziehen, trotz der Kälte und Müdigkeit. Sie machen sich still mit ihrer Mutter auf den Weg in die dunkle Stadt. Auf ihrem leisen nächtlichen Weg begegnen sie kleinen Menschengruppen, die alle in die gleiche Richtung streben. Und da steht sie: Die weiße Kirche, hoch, festlich und erhaben. Hinter ihr ist bereits eine erste Ahnung des neuen Morgens zu erkennen. Die Menschen stehen stumm um ein riesiges Feuer, das lichterloh brennt und Funken sprüht. Er steht da, an seine Mutter geklammert und starrt in die Flammen und fühlt sich glücklich und warm. Auf einmal erklingt der Gesang der Gemeinde, sie singen von Jesus und seinem Tod, von Auferstehung und ewigem Leben. Er versteht nicht viel davon, aber er erinnert sich, dass er die friedliche Freude der Menschen um ihn herum spüren konnte. Seine Mutter reicht ihm eine Kerze, die er am Osterfeuer entzünden und in die Kirche tragen darf. Dort sitzt er dann im Weihrauchduft auf dem Schoß der Mutter, die ihm leicht über die Beine streichelt und glockenhell die Lieder der Auferstehung singt.

Es ist die letzte gute Erinnerung an sie, an ihren Geruch, an ihre Wärme und Liebe. In der nächsten Nacht stirbt sie. Der Arzt, der zur gleichen Stunde wie das Osterfeuer am Vortage gerufen wird, kann nichts mehr für sie tun. Sein Bruder und er sind nun Waise, die von einem entfernten Großonkel aufgezogen werden. Doch diesen Gedanken denkt er nicht zu Ende, denn dann wäre es keine abendliche gute Erinnerung mehr. Er denkt noch einmal kurz an seine Mutter, an ihre Hände und ihre Halsbeuge, an ihre Haare und ihre rote Strickjacke.

Und dann hört er sie schon: Die Schritte auf dem Gras und die dunkle Stimme von Schwester Aurélie, die sagt – Na, Monsieur, wieder schön weggedöst? Er kann nicht mal nicken, aber er bejaht ihre Frage mit seinen Augenlidern, die er bekräftigend schließt und wieder öffnet. Sie löst resolut die Bremse seines Rollstuhls, wendet ihn so schnell, dass er nicht mal einen letzten Blick auf seine drei enttäuschten Enten richten kann und beginnt ihn ins Haus zu schieben.

Der Alte schließt die Augen. Eine kleine Träne bahnt sich den Weg durch seine Falten und durch seinen ergrauten Stoppelbart. Es ist die letzte Träne eines alten Mannes.

 

(Fotos von Theresia Kellig hier)

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Ein Kommentar zu „„Der Alte“

  1. Sehr schön, traurig und doch nicht! Danke auch für die Illustration und Fotos von Theresia. Ich fotografiere auch sehr gerne.

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