Ein Märchen von großen Träumen

Es war einmal ein altes Nashorn, das hatte einen großen Traum.
Seit es denken konnte – und das konnte es schon sehr lange, denn Nashörner werden meist sehr alt – nun, seit es denken konnte, wünschte es sich einen Regenbogen. Wenn es regnete, legte es sich auf eine Wiese unweit von seinem Sandloch und schaute in den trüben Himmel.
Eines Tages kam ein Erdmännchen vorbei und beguckte sich das traurige, in den Himmel starrende Nashorn. Es kippte seinen kleinen Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite, zuckte unschlüssig mit den kleinen schmalen Schultern und machte dann einen winzigen Tippelschritt auf unser Nashorn zu. Schließlich sprach es:
„Du! Was guckst du so in den Regen, als ob du unter Tropfen begraben werden wolltest?“
Unser Nashorn blickte nicht zur Seite, sondern starrte weiter gen Himmel. Plötzlich antwortete es ganz leise, so leise, dass sogar ein Erdmännchenohr es kaum verstehen konnte:
„Ich wünsche mir einen Regenbogen. Einen, der bleibt.“
Das Erdmännchen begann zu kichern. „Wie stellst du dir das denn vor? Das geht doch gar nicht, bist du nicht ganz richtig in deinem großen grauen Kopf?“ Immer noch vor sich hin kichernd ging es von dannen.
Nach einer Weile, es regnete immer noch aus Kannen und die Sonne schlief tief und fest hinter dicken Regenwolken, kam eine Giraffe vorbei. Sie war weniger schüchtern, senkte ihren langen Hals zu dem Nashorn und schnüffelte an seinem Kopf. Als ihr klar wurde, dass es sich tatsächlich um ein Nashorn handeln musste, fragte sie mit einer hohen, madammigen Stimme:
„Ich will ja nicht weiter stören, nur scheint es mir, als ob Sie Kummer hätten. Dürfte ich denn vorsichtig anfragen, was Ihnen das Herz belastet, mein Freund?“
Und auch jetzt drehte das Nashorn nicht mal seinen Kopf, es blickte lange blinzelnd und mit verklärt-nassem Blick in die Wolken. „Ich wünsche mir einen Regenbogen. Einen, der bleibt.“
Die Giraffe gluckste, als sie die leisen Worte vernahm. „Ach ja? Nun, ich sag Ihnen was. Ich kenne eine Giraffe, die wollte auch einen Regenbogen – na ja, zum Essen natürlich. Immer wenn die Sonne schien und es regnete und ein Regenbogen über der Savanne erschien, nun, jedes Mal schnappte sie nach ihm, sie versuchte sogar zu hüpfen dabei! Nun ja, ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass das Unterfangen gar keinen, aber wirklich gar keinen Sinn machte. Lieber Freund, ich denke, Sie sollten über etwas anderes tagträumen, sonst verkommen Sie noch vor lauter Kummer.“ Da ihr Ratschlag unbeantwortet blieb, machte sie sich auf ihren großen Stelzen gemächlich davon, gluckste noch etwas und schüttelte von Zeit zu Zeit überlegen ihren Kopf.
Die Stunden gingen ins Land, es regnete immer weiter. Nachdem es drei Tage geregnet hatte, erhob sich das traurige Nashorn und wollte zu seinem Sandloch zurückkehren. Als es dieses erreichte, staunte es: Aus seinem Sandloch war ein riesiger See geworden, das Wasser der Savanne hatte sich in einer großen Mulde gesammelt und durch Rinnsale und Bäche wurde der See bis hin zum Meer mit Wasser gespeist. Als unser Nashorn da so stand und auf die Wassermassen blickte, erkannte es sein Spiegelbild. Riesige, runde Nashorntränen rollten ihm über sein Gesicht, vorbei an seinem Horn, bis hinunter auf seine krummen, stämmigen Beine. Es fühlte sich, als ob ihm die Lebenskraft ausgehen würde und legte sich neben den See. Da piepste es auf einem Mal neben ihm:
„He du! Du liegst im Weg, möcht ich meinen!“ Das Nashorn wollte niemandem im Weg liegen und schaute sich um. Dort, an seinem rechten Fuß, saß eine kleine Schnecke mit einem länglichen, hübsch gezwirbelten Schneckenhaus und schaute ziemlich böse. Ihre Fühler wackelten aufgeregt, als sie wiederum sprach: „Ich habe nicht viel Zeit, ich muss ins Wasser zurück, sonst trockne ich aus! Und wenn ich um dich herum kriechen müsste, dann wäre es aus und vorbei mit mir! Bitte geh mir aus dem Weg!“ Das Nashorn erhob sich langsam und trat ein wenig zur Seite.
Beim Vorbeikriechen hatte die Schnecke eine Menge Zeit, also fragte sie: „Was machst du eigentlich hier? Und wieso bist du so niedergeschlagen?“
Da sagte das Nashorn wiederum und diesmal noch viel trauriger: „Ich wünsche mir einen Regenbogen. Einen, der bleibt.“ Die Schnecke kroch weiter und wackelte wild mit ihren Fühlern. „Aha, ich verstehe. Mm, ich denke, du musst dich auf einen Kompromiss einstellen. Wenn es auch kein richtiger Regenbogen sein kann, denn du weißt ja wohl, dass das nicht geht, so habe ich doch eine Idee. Schau ins Wasser, dort wohnt jemand, der dein Regenbogen sein könnte!“
Und tatsächlich: In dem See, der aus dem vielen Regenwasser, dem Sandloch und all den anderen kleinen Schluchten und Gräben geworden war, tummelten sich Fische und Wasserschnecken. Und einer war unter ihnen, der war so schön und schimmerte so hell, dass sich das Nashorn entzückt nach unten beugte um den Fisch zu bestaunen. Als dieser sah, dass er zum Publikumsliebling mutiert war, kam er an die Oberfläche und sprach lächelnd: „Hallo, ich bin ein Regenbogenfisch. Ich wünsche mir einen Dinosaurier zum Freund. Du siehst aus wie einer!“ Das Nashorn lachte und antwortete: „Ich will gern dein Dinosaurierfreund sein. Ich wünsche mir einen Regenbogen. Einen, der bleibt.“ Der Fisch klatschte mit seinen Flossen vor Aufregung: „Gut, gut! So wollen wir es machen: Ich bleibe hier bei dir und du bleibst bei mir. Ich will dein Regenbogen sein und du bist mein Dinosaurierfreund.“
Von diesem Tag an waren die beiden unzertrennlich.

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2 Kommentare zu „Ein Märchen von großen Träumen

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